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Multiple Krisen – Sind Logistik und SCM noch berechenbar?

Die Logistikindustrie hatte sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer verlässlichen Branche entwickelt. Die Supply-Chain in den diversen Handels- und Produktionsbereichen „tickte wir ein Uhrwerk“. Der pünktliche Nachschub war gesichert, Bestände wurden sukzessive reduziert.

Beitrag: Bernd Kratz

Einerseits wurde durch diese Strategie die Kapitalbindung minimiert, andererseits wurden große Läger für die Bevorratung überflüssig. Die Ware erreichte bedarfsorientiert und verlässlich den Empfänger. In der Automobilbranche wurden die Produktionsteile von den Zulieferern „in Sequence“ an die Bänder geliefert – Just in Time, sichergestellt durch planbare Lieferketten.

Den ersten wesentlichen Einbruch erlebten diese verlässlichen Supply Chains mit dem Start der Corona-Krise: Ganze Produktionsstätten in China und einer der größten dortigen Häfen wurden geschlossen. Die wesentlichen Auswirkungen auf die Lieferketten spürte Deutschland sechs Wochen später, als Schiffe aus Asien nicht in Europa eintrafen – die globale Supply Chain war massiv gestört. Produktionswerke in Deutschland wurden geschlossen – nicht vorrangig infolge des Risikos einer Ansteckungsgefahr mit dem Virus, sondern da für die Produktion benötigte Teile nicht geliefert wurden.

Als Konsequenz folgten dadurch Probleme in der Warenversorgung, aber auch durch weitere unvorhergesehene Ereignisse, die eine Planbarkeit der Logistik stark beeinträchtigten: Infolge des Lockdowns im stationären Handel explodierten die Bestellungen im eCommerce.

Neben fehlenden Warenbeständen konnte kurzfristig das erforderliche zusätzliche Personal nicht beschafft werden. Der bis dahin propagierte USP des Online-Handels, das Versprechen einer Next-Day-Delivery war auf einmal Vergangenheit. Die Erwartungshaltung der Konsumenten reduzierte sich und man war zufrieden, bestellte Produkte auch erst nach einer Woche oder länger zu erhalten. Doch die Unplanbarkeit fand damit kein Ende:

  • Am 23. März 2021 blockierte die Evergiven sechs Tage den Suezkanal – Es war nicht einmal eine Woche, doch hunderte Schiffe stauten sich und warteten auf die Fahrt durch die weltweit wichtigste Seeverbindung von Asien nach Europa / USA in beide Richtungen.
  • Ein Streik der Hafenarbeiter in den deutschen Nordseehäfen führte dazu, dass Schiffe in der Deutschen Bucht lagen und auf Löschung in Hamburg, Bremen, Bremerhaven warteten. Der bislang verlässliche Zeitplan in der Schifffahrt konnte nicht mehr gehalten werden, Container
    waren nicht an den erforderlichen Orten verfügbar, Frachtraten stiegen ohne Vorankündigung.
  • Nach diesen signifikanten Ereignissen zeigte sich dann noch ein zunehmender Fachkräfte-
    mangel auch im gewerblichen Bereich der Logistikindustrie.

Der Welt wurde bewusst, wie unerwartete Ereignisse den Welthandel plötzlich und unangekündigt signifikant stören können. Obwohl – nicht alle Krisen fallen vom Himmel, sondern lassen sich frühzeitig erkennen: Der sich seit Jahren abzeichnende Fachkräftemangel war durch die sukzessiv in Rente gehenden Jahrgänge der Babyboomer viele Jahre bereits prognostizierbar, wurde von einigen Unternehmenslenkern offensichtlich jedoch nicht frühzeitig und adäquat priorisiert. Aber auch die mangelhafte Infrastruktur in der E-Mobilität, fehlender Netzausbau und nicht ausreichend Ladepunkten sollten zu richtigen Entscheidungen für den nächsten Übergangszeitraum führen.

Nach all diesen Entwicklungen folgten schon die nächsten Krisen – Eine Aneinanderreihung von Multiplen Krisen, Polykrisen oder, wie oftmals betitelt wird als eine „Krisenkaskade“. Und stets wurde die Logistik vor neue Herausforderungen gestellt. Der Angriffskrieg auf die Ukraine resultierte in weitreichenden Konsequenzen – für die deutsche Logistikwirtschaft, insbesondere die Energiekrise und den nicht kalkulierbaren Preisentwicklungen.

Die aktuelle Lage im Roten Meer führt wiederum nicht nur zu unverlässlichen Supply Chains, wenn einzelne Containerschiffe den Umweg ums Kap der Guten Hoffnung machen: Neben der etwa 8- bis 10-tägigen längeren Fahrzeit sind die Reedereien damit mit höheren Kosten konfrontiert – für ein Containerschiff oftmals im sechsstelligen Bereich.

Ungeplante Kosten der Logistik, die infolge langer Vertragslaufzeiten oftmals jedoch nicht auf die Kunden umgelegt werden können. Eine ähnliche Situation, wie sie sich bei der stufenweisen Erhöhung der LKW-Maut in Deutschland ergibt – auch hier verhindern lange Vertragslaufzeiten oftmals eine Weiterbelastung an den Auftraggeber.

Die Krisen der letzten 4 Jahre und die aktuellen weltwirtschaftlichen und politischen
Situationen haben ihre vielfältigen Einflüsse auf die Supply Chain. Wieder wurde der Welt bewusst, wie eine Kaskade von Ereignissen den Welthandel länger und signifikant stören kann. Verspielen die veränderten Rahmenbedingungen die Planungssicherheit in der Logistik?

Mit dieser Thematik haben wir Logistiker tagein, tagaus zu kämpfen und sind immer wieder aufs neue gefordert, kurzfristige und flexible Lösungen zu finden. Diese Herausforderungen werden nicht einfacher, wenn selbst innerhalb der EU eine Harmonisierung fehlt: So ist beispielsweise die Co2-Bepreisung nicht global umgesetzt und damit auch für den logistischen Bereich deutlich wettbewerbsverzerrend. Zu diesen ungleichen wirtschaftlichen Umfeldbedingungen gesellt sich die Ungewissheit: Ist die Situation im Iran eine weitere Krise oder Tagespolitik? Wird sich hieraus eine weitere Belastung für die Logistik ergeben und mit welchen Maßnahmen würden wir reagieren, um unsere Verlässlichkeit sicherzustellen?

Mit all diesen Situationen waren insbesondere auch die Logistikunternehmen konfrontiert und mussten Lösungen finden, um den Warenfluss am Laufen zu halten und die weltweite Supply Chain wieder zu stabilisieren. Die Logistik hat während der letzten Jahre eine gute Performance gezeigt, oftmals intelligent, improvisiert sowie schnell und flexibel reagiert. Gelingt es, eine krisenresistente Logistik zu etablieren, um auch bei ungewissen politischen und übergeordneten Entwicklungen ein verlässlicher Partner zu sein? Eine zunehmend anspruchsvolle Herausforderung für die Logistikbranche! (RED)

Quelle: LOGISTIK express Journal 3/2024 – Transport & Logistik

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